Das Telefonat

von Mathias Döbbert

Nichts verdeutlicht den technischen Fortschritt der jüngsten Vergangenheit so anschaulich wie die Entwicklung des Telefons. Wurde die Erfindung Mitte des 19. Jahrhunderts noch als Sensation gefeiert, dominierte fast hundert Jahre lang das auf Kabellänge zwischen Hörer und Steckdose begrenzte Festnetztelefon die Fernkommunikation. Erst ab 1990 löste das Mobiltelefon, neudeutsch auch Handy genannt, einen Quantensprung in der Möglichkeit des verbalen Hin und Her aus. Ich erinnere mich noch gut an 1 stationäres Telefon pro Hausgemeinschaft, öffentliche Telefonzentralen und Anstehen an der Telefonzelle am Wochenende im Wohnviertel. 

Alles Schnee von gestern. Das smarte Gerät zum Telefonieren, Fotografieren, Internetsurfen und mehr steckt heutzutage in jeder Hosentasche, jeder Handtasche und sogar in jedem Schulranzen. Man kann sich von (fast) jedem Ort aus verbinden und ist auch nahezu überall erreichbar. Soziologen und Mediziner streiten zwar noch, ob das Handy Fluch oder Segen darstellt. Die Anzahl der Telefonate hat jedenfalls weltweit exponentiell zugenommen, wenn auch der Inhalt der modernen Kommunikation oftmals die These von der Schädlichkeit der gehirnaufweichenden Radiowellen zu untermauern scheint.

 

Natürlich bin ich ebenfalls im Besitz eines dieser kleinen Wunderwerke und es begleitet mich bei meinen Paddelausflügen in der Funktion einer Notrufzentrale. So gleite ich denn während einer sonntäglichen Morgenfahrt mit meinem Kayak die Elbe hinunter. Mittig in der Fahrrinne beschleunigt die Strömung der Elbe meine Reise zum Heimatsteg auf 6-7 Kilometern pro Stunde, flankiert von roten und grünen Fahrwassertonnen. Entspannt hänge ich meinen Gedanken nach, als mich ein Klingelton aus eben diesen reißt. Ich fingere das Handy aus dem Packsack und erblicke im Display das fröhliche Gesicht des Anrufers – meiner Gattin. Das Gespräch zu ignorieren wäre sowohl unschicklich als auch ungesund, von wegen des Haussegens und so. Außerdem könnte ja auch ein Notfall eingetreten sein. Ich schätze noch schnell den Abstand zur nächsten Tonne ein – ca. 1500 Meter. Das sollte reichen. Ich lege das Steuerpaddel ab und nehme das Gespräch an.

Ein Hauch von „Guten Morgen, Süßer“ dringt an mein Ohr. Ich atme auf. Kein Notfall. Offenbar haben wir uns soeben dem Bett entwunden. Fürsorglich erkundige ich mich nach dem werten Befinden. Zu meinem Bedauern muss ich von einer unruhigen Nacht, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Kopfschmerz und einer Reihe weiterer Unbilden erfahren. In manchen Kulturen kommt spätestens nach 20 Minuten Unterhaltung die Sprache auf die finanzielle Situation und das Fehlen der Mittel für Strom, Wasser und Heizung, von Kleidung und Essen ganz zu schweigen. Nach weiteren 30 Minuten ist man gewillt, sein Portemonnaie zu zücken, um der bedürftigen Bevölkerung zu helfen. Die Deutschen haben offenbar genug zu essen, denn ihr Lieblingsthema sind ihre Leiden. Hat man sich mit einer mittelgroßen Gruppe von Personen ein weinig ausgetauscht, kann man getrost daran gehen, eine medizinische Enzyklopädie zu schreiben. Es dauerte also ein paar Minuten, bis sich die Aufzählung der morgendlichen Stimmungslage dem Ende näherte. Mit kurzen Kommentaren wie „a-ha“, „so so“ und „nicht zu fassen“ versuche ich, nicht unnötig Öl ins Feure zu schütten. Die Tonne ist inzwischen auf 1000 m herangerückt.

 

Als nächstes erkundigt sich meine holde Hälfte nach dem Wetter. Über das Wetter lässt sich vortrefflich palavern, ohne aus Versehen in ein Fettnäpfchen zu treten. Die auf dem Wasser gefühlte Temperatur wird penibel mit den Werten der hauseigenen Wetterstation abgeglichen. Hochkochende Emotionen wie „herrlicher Sonnenschein“ und „milde Wetterlage“ werden argwöhnisch zur Kenntnis genommen und mit der aktuellen Aussicht am Küchenfenster verglichen. Es folgen Nachforschungen zur der dem Wetter angepassten Kleiderordnung und Anweisungen bezüglich der Verwendung von Schal, Mütze und Handschuhen. Das Wasser ist zwar noch reichlich kalt in diesen Tagen, doch ich versichere wahrheitsgemäß, dass Kentern nicht in meinen Absichten liegt. Aus diesem Grunde beobachte ich aufmerksam, wie sich die grüne Fahrwassertonne weiter auf mich zubewegt. Ein 600-Meter-Abstand scheint noch nicht bedrohlich.

Es folgt der abschließende Sicherheitscheck, ob ich meine Schwimmweste angelegt habe. Das kann ich heute bejahen. Das hätte ich sowieso getan, denn noch kommunizieren wir nicht per Video-Chat. Und warum sollte man auch die Liebsten unnötig in Sorge versetzen? Das heikle Thema schnell zu wechseln, möchte ich wissen, was es denn daheim zum Frühstück geben wird. Die nun folgende Aufzählung klingt nicht verlockend: Das Brötchen zu alt, das Ei zu hart, die Marmelade zu süß. Allein der Kaffee scheint gelungen. Einen gedeckten Tisch mit Köstlichkeiten noch vor dem geistigen Auge reißt es mich plötzlich in die Realität zurück. Die Strömung treibt mich unerbittlich auf das grüne Hindernis, die Tonne auf backbord zu. Keine 300 Meter mehr bis zur Kollision.

 

Allmählich komme ich ins Schwitzen ob der drohenden Gefahr. Eigentlich müsste ich das Telefon zur Seite legen und das Paddel in die Hand, um den gefährlichen Kurs zu ändern. Andererseits erlaubt die gute Kinderstube nicht, ein Gespräch abrupt und unhöflich zu beenden, schon gar nicht, wenn ein geliebter und sensibler Mensch am Gegenstück ununterbrochen weiterredet. So treibe ich steuerlos weiter voran und hoffe, dass der Mitteilungsfluss in Kürze versiegt. Noch 200 Meter bis zum Aufprall.

In diesem Moment fällt in dem Monolog das magische Wort: Schwiegermutter. Nun ist eine Unterbrechung nicht mehr möglich und ich lasse alle Neuigkeiten über die Verwandtschaft unkommentiert an mir vorbeirauschen, das sich nähernde Ungeheuer im Blick. So eine Tonne kann locker 60 kg wiegen, rufe ich mir ins Gedächtnis, und ein Zusammenstoß mit 6-7 km/h dürfte fatale Folgen für ein so winziges Kayak wie das meine und dessen Fahrer haben. Werden in der Automobilindustrie nicht die Crashtests mit nur 10 km/h durchgeführt? Ich sehe mich bereits an der Stelle eines Dummys, eingeschlossen nicht in einer Stahlhülle, sondern umgeben von Hartplaste – quasi ein schwimmender Trabant ohne Airbags auf dem Weg zur Betonwand. Wie so etwas endet, kennt man ja aus dem Fernsehen. Noch 100 Meter bis zum harschen Stopp.

 

Glücklicherweise ist in der näheren Verwandtschaft nichts Wesentliches vorgefallen und der recht einseitige Informationsaustausch kommt ein paar Sekunden zum Erliegen. Ich ergreife meine Chance und erwähne wie beiläufig, dass ich die Fahrt jetzt wieder fortsetzen muss. Meiner besseren Hälfte ist offenbar der Gesprächsstoff ausgegangen und so endet das Telefonat mit einem besorgten “Bitte, gib auf dich acht!“. Genau das ist jetzt mein dringlichstes Anliegen, denn ein bereits tosendes Ungetüm rauscht auf mich zu. Noch 50 Meter bis zum Unvermeidlichen.

 

Ich lasse so schnell ich kann das Telefon ins Boot fallen und will nach dem Paddel greifen. Mir zittern vor Aufregung die Hände und die Bewegungen sind fahrig. Das Paddel rollt durch die hektische Aktion über den Süllrand ins Wasser. Das Herz pocht mir bis zum Halse und ich sehe mich mit meinem Boot um die Tonne wickeln. Nur noch 20 Meter bis zum Untergang.

Doch ich habe wieder einmal mehr Glück als Verstand. Das Paddel ging auf der der Strömung zugewandten Seite über Bord und wird nun von selbiger an das Boot gedrückt. Das Herz hämmert in meiner Brust, der Puls rast und literweise Adrenalin wird in den Kreislauf ausgeschüttet. Beherzt greife ich zu und angle mir das Steuerpaddel aus der Elbe. Mit zwei-drei Schlägen bringe ich das Kayak gerade noch rechtzeitig aus der Todeslinie und schieße an der Tonne und den gurgelnden Wasserwirbeln vorbei.

 

Puh! - das war noch einmal gut gegangen, versuche ich mich später zu beruhigen. Nicht umsonst sind Mobiltelefone im Straßenverkehr untersagt. Doch spätestens seit heute sollte auch auf den Wasserstraßen gelten: „Handy weg vom Steuer!“.

 

P.S.: Wochen später ließ ich zu Hause die Story in stark gemilderter Form durchsickern. Das Resultat? Seit Weihnachten bin ich stolzer Besitzer eines Funkkopfhörers, damit ich jederzeit Anrufe entgegennehmen kann, ohne das Paddel aus der Hand legen zu müssen. 


Kommentare: 5
  • #5

    Kirsten Worms (Mittwoch, 18 März 2020 21:25)

    Ich habe beim Lesen vor Aufregung die Luft angehalten. Den Berufswechsel würde ich auch befürworten, ich bestelle hiermit ein Exemplar des ersten Buches :-) Oder gibt es vielleicht schon unter Pseudonym veröffentlichte Krimis?

  • #4

    Karl-Heinz (Dienstag, 17 März 2020 22:15)

    Hallo Mathias
    Ich freue mich schon auf die Fortsetzung!
    Gruß Karl-Heinz

  • #3

    Fred Schröder - Kanuclub Fan und Gastleser (Dienstag, 17 März 2020 14:07)

    Danke für diesen tollen Artikel. Habe sehr viel Spaß beim Lesen gehabt. Willkommene Abwechslung in dieser vom Coronavirus beherrschten Berichterstattung. Durch die bildhafte Schilderung habe ich die Gattin beim Frühstück gesehen, die Neuigkeiten über die Schwiegermutter erfahren und mitgefiebert bei der gefährlichen Annäherung der grünen Fahrwassertonne.

  • #2

    Alfred Mueller (Dienstag, 17 März 2020 10:56)

    Herrliche Widergabe einer sehr schwierigen Situation (Anruf der Frau !!!!!). Du solltest unverzüglich über einen sofortigen Berufswechsel nachdenken - Schriftsteller. Weitermachen!!!!

  • #1

    Martin S. (Dienstag, 17 März 2020 00:03)

    Klasse Unterhaltung frei nach Loriot ( Vicco von Bülow), "Szenen einer Ehe".
    Ein ganz dickes Lob für köstlichen und dramatischen Humor. Weiter so.